„Regeln mit heißer Nadeln gestrickt“: Insolvenzverwalterin Jutta Rüdlin kritisiert Krisenpolitik der Bundesregierung und warnt vor Insolvenzanstieg am Ende der Corona-Krise
Harte Kritik an der Bundesregierung kommt von Jutta Rüdlin, Beirats-Sprecherin des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands (VID). „Während der Krise hat die Politik manche Regeln mit heißer Nadel gestrickt und zu wenig darauf gehört, welche Chancen damit verbunden sind, wenn man kriselnde Unternehmen frühzeitig restrukturiert“, erklärt die Insolvenzverwalterin und Sanierungsexpertin im Gespräch mit ZEIT für Unternehmer, dem Magazin aus der Wirtschaftsredaktion der Wochenzeitung DIE ZEIT. „Das liegt sicher auch daran, dass man keine Wahlen gewinnt, wenn man ein tolles Insolvenzregime geschaffen hat“, so Rüdlin weiter, „man kann sie aber verlieren, wenn es auf einmal viele Insolvenzen gibt.“
Rüdlin erklärt, sie habe gehofft, dass es in der Corona-Krise gelingen könne, „das mit einer Insolvenz verbundene Stigma aus den Köpfen zu bekommen.“ Diese Hoffnung habe sich nicht erfüllt: „Die Bundesregierung möchte uns bei der Rettung und Sanierung der Wirtschaft anscheinend nicht dabeihaben. Und sie hat das Stigma mit ihrer Politik und insbesondere ihrer Kommunikation verstärkt, statt es zu beseitigen.“ So werde Scheitern weiterhin „nicht als Chance, sondern als Katastrophe gesehen“, eine Insolvenz werde „als bitteres Ende betrachtet und nicht als mutiger Neuanfang.“
Dass im Pandemiejahr 2020 sogar weniger Unternehmen Insolvenz angemeldet haben als im Jahr zuvor dürfe man nicht als gute Nachricht verstehen. „Das Insolvenzgeschehen hat sich von der wirtschaftlichen Lage komplett entkoppelt – eine paradoxe Situation“, so Rüdlin. Es sei zwar zunächst richtig gewesen, die Insolvenzantragspflicht während der Corona-Krise auszusetzen und gesunden Unternehmen zu helfen, die wegen der Pandemie in Schwierigkeiten geraten seien. „Aber diese Aussetzung wurde mehrfach modifiziert und verlängert, und das kann ernste und unerwünschte wirtschaftliche Folgen haben“, so Rüdlin gegenüber ZEIT für Unternehmer.
Rüdlin äußerte die Befürchtung, eine Folge dieser Politik könne ein allgemeiner „Vertrauensverlust in der Wirtschaft“ sein. Wenn ein Unternehmer verlässliche Geschäftspartner nicht mehr von jenen unterscheiden könne, die jeden Moment verschwinden könnten, werde er vorsichtiger, scheue Investitionen und vertage Aufträge. Die sogenannten Zombie-Firmen würden außerdem Personal und Kapital binden, das die Wirtschaft an anderer Stelle gut gebrauchen könne. „Und es wächst das Risiko, dass sich sehr viele Insolvenzen gleichzeitig ereignen – und zwar ausgerechnet dann, wenn die Krise vorbei ist, Staatshilfen heruntergefahren werden und die Insolvenzantragspflicht wieder greift“, so Rüdlin.